Rebecca Reusch

Der Fall Rebecca Reusch gehört zu den rätselhaftesten und meistdiskutierten Vermisstenfällen Deutschlands. Seit dem 18. Februar 2019, als die damals 15-jährige Schülerin aus Berlin-Neukölln spurlos verschwand, beschäftigt ihr Schicksal die Öffentlichkeit, die Medien und die Ermittlungsbehörden. Trotz intensiver Suche, tausender Hinweise und wiederholter Ermittlungen bleibt unklar, was mit Rebecca geschah. Dieser Artikel beleuchtet die Chronologie des Falls, die Ermittlungen, die Theorien, die Rolle der Familie, die Medienberichterstattung und die gesellschaftliche Bedeutung dieses Kriminalfalls.

Chronologie des Verschwindens

Der Abend vor dem Verschwinden

Rebecca Reusch, geboren am 21. September 2003, war eine lebensfrohe Schülerin der 10. Klasse an der Walter-Gropius-Schule in Berlin-Neukölln. Sie war bekannt als Fan der koreanischen Musikgruppe BTS und führte ein normales Teenagerleben. Am Abend des 17. Februar 2019 verbrachte Rebecca bei ihrer älteren Schwester Jessica in deren Haus im Stadtteil Britz, wo Jessica mit ihrem Ehemann Florian R. und ihrer kleinen Tochter lebte. Rebecca plante, am nächsten Morgen direkt zur Schule zu gehen, da der Unterricht aufgrund eines ausgefallenen Fachs erst später begann. Sie schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer, während ihre Schwester und deren Tochter im ersten Stock übernachteten. Florian R., Rebeccas Schwager, war an diesem Abend auf einer Firmenfeier und kehrte erst in den frühen Morgenstunden um etwa 5:45 Uhr nach Hause zurück.

Der Morgen des 18. Februar 2019

Am Morgen des 18. Februar verließ Jessica gegen 7:00 Uhr mit ihrer Tochter das Haus, um zur Arbeit zu fahren. Rebecca blieb allein mit ihrem Schwager im Haus zurück. Zwischen 7:00 und 7:46 Uhr machte Rebecca ein Snapchat-Foto, das sie im Flur des Hauses zeigte. Sie trug einen Kapuzenpullover mit der Aufschrift „BTS“ und „Rap Monster“, eine rosa Plüschjacke, zerrissene Jeans und schwarz-weiße Vans-Sneaker. Dieses Foto, das sie an eine Freundin schickte, gilt als ihr letztes Lebenszeichen. Die Freundin sah das Foto um 8:15 Uhr, da Snapchat-Nachrichten nach dem Öffnen automatisch gelöscht werden, ist die genaue Zeit der Aufnahme unklar.

Um 7:15 Uhr versuchte Rebeccas Mutter, Birgit Reusch, ihre Tochter telefonisch zu erreichen, landete jedoch auf der Mailbox. Ein weiterer Anruf um 8:25 Uhr blieb ebenfalls erfolglos. Daraufhin rief die Mutter ihren Schwiegersohn Florian an, der den Anruf wegdrückte. Bei einem Rückruf kurz darauf erklärte Florian, dass Rebecca nicht mehr im Haus sei. Um 8:42 Uhr schickte die Mutter eine WhatsApp-Nachricht an Rebecca, die zugestellt, aber nicht gelesen wurde. Rebecca erschien nicht in der Schule, und als sie am Nachmittag nicht nach Hause zurückkehrte, meldeten ihre Eltern sie als vermisst.

Vermisste Gegenstände

Neben Rebecca verschwanden auch einige ihrer persönlichen Gegenstände: ihr Schulrucksack, eine rosa Handtasche mit den Initialen „MK“, ihr Geldbeutel, ihr Handy und eine rosafarbene Polaroid-Kamera (Fuji Instax Mini 9). Auffällig war zudem das Fehlen einer lilafarbenen Plüschdecke aus dem Haushalt von Rebeccas Schwester. Diese Gegenstände wurden nie gefunden und spielen eine zentrale Rolle in den Ermittlungen.

Die Ermittlungen

Erste Maßnahmen der Polizei

Nach der Vermisstenmeldung am Nachmittag des 18. Februar 2019 leitete die Berliner Polizei umgehend Suchmaßnahmen ein. Am 21. Februar wurde Rebecca offiziell als vermisst erklärt, und bereits am 23. Februar übernahm die Mordkommission die Ermittlungen, da die Behörden von einem Tötungsdelikt ausgingen. Die Ermittler konzentrierten sich früh auf Florian R., da er als letzter nachweislich mit Rebecca im Haus war. Am 28. Februar wurde Florian erstmals festgenommen, jedoch am 1. März wieder freigelassen. Eine zweite Festnahme erfolgte am 4. März, doch auch diese führte am 22. März zur Freilassung aufgrund fehlender Beweise.

Am 6. März 2019 wurde der Fall in der ZDF-Sendung Aktenzeichen XY … ungelöst vorgestellt. Michael Hoffmann, Leiter der 3. Mordkommission, präsentierte Fotos von Florian R. und seinem himbeerfarbenen Renault Twingo, was bundesweite Aufmerksamkeit erregte. Über 300 Hinweise gingen nach der Sendung ein, insgesamt sammelte die Polizei bis 2025 etwa 3.200 Hinweise. Keiner führte jedoch zu einem Durchbruch.

Der Fokus auf den Schwager

Florian R. geriet schnell in den Fokus der Ermittlungen. Mehrere Indizien belasteten ihn:

  • Zeitliche Widersprüche: Florian gab an, am Morgen geschlafen zu haben, doch Routerdaten zeigten, dass er online war und pornografische Inhalte mit Fessel- und Strangulationspraktiken ansah.

  • Fahrten auf der A12: Das Kennzeichenerkennungssystem registrierte Florians Renault Twingo am Vormittag des 18. Februar und am Abend des 19. Februar auf der A12 in Richtung Frankfurt (Oder), nahe der Grenze zu Polen. Er lieferte keine plausible Erklärung für diese Fahrten.

  • Spuren im Auto: Im Kofferraum des Twingo wurden Haare und Fasern gefunden, die vermutlich von der verschwundenen lilafarbenen Decke stammen.

  • Bademantelgürtel: Bei einer Hausdurchsuchung im April 2023 wurde ein Bademantel ohne Gürtel gefunden. Die Mutter fragte nach dem Verbleib des Gürtels, der angeblich schmutzig war und entsorgt wurde. Dies nährte Spekulationen über ein mögliches Tatwerkzeug.

Trotz dieser Indizien fehlen der Staatsanwaltschaft ausreichende Beweise für eine Anklage. Florian R. wurde mehrfach freigelassen, und die Unschuldsvermutung gilt weiterhin.

Weitere Spuren und Theorien

Die Krakau-Sichtung

Ein Zeuge berichtete, Rebecca am 4. April 2019 in Krakau gesehen zu haben, zusammen mit einem Mann in einem Kaufhaus. Rebeccas Vater, Bernd Reusch, gab an, dass die Polizei die Spur nach Polen verfolgte, jedoch ohne Ergebnis. Die Glaubwürdigkeit dieser Sichtung wurde angezweifelt, da der Zeuge sich von der Polizei nicht ernst genommen fühlte.

Die Lauben-Theorie

2020 meldete eine Zeugin, am Tag von Rebeccas Verschwinden ein Zelt nahe einem Gully in Großziethen gesehen zu haben, neben einem pinken Renault Twingo, der Florians Fahrzeug ähnelte. Die Polizei durchsuchte ein angrenzendes Waldstück, nicht jedoch zwei Lauben in Wolzig, die einem Freund von Florian gehörten. Eine Freundin der Familie berichtete, dass die Familie bei einer Feier Witze über die unvollständige Durchsuchung machte, was Spekulationen über ein mögliches Wissen der Familie nährte.

Der Internet-Bekannte

Es gab Spekulationen über einen Internet-Bekannten, einen Jungen in Rebeccas Alter, mit dem sie Kontakt hatte. Er löschte seine Social-Media-Profile kurz nach Rebeccas Verschwinden, was Verdacht erregte. Die Polizei prüfte diese Spur, konnte ihn jedoch als Verdächtigen ausschließen.

Ermittlungsfehler und Kritik

Die Ermittlungen wurden wiederholt kritisiert:

  • Fahndungsfoto: Das von der Polizei veröffentlichte Foto, ein bearbeitetes Selfie von Rebeccas Instagram-Account, wurde als ungeeignet angesehen, da es ihr Aussehen verfälschte. Rebeccas Mutter gab an, kein aktuelles Foto zur Hand gehabt zu haben.

  • Verzögerte Google-Daten: Ein Polizist, anonym als „Dirk B.“ bezeichnet, warf den Ermittlern vor, Google-Daten (z. B. Standortdaten von Rebeccas Handy) erst im Herbst 2020 angefordert zu haben, mit Ergebnissen im Frühjahr 2021. Dies wurde als schwerwiegender Fehler kritisiert, da frühere Daten möglicherweise entscheidende Hinweise geliefert hätten.

  • Einseitige Ermittlungen: Der Anwalt der Familie warf der Polizei vor, sich zu stark auf Florian R. zu konzentrieren und andere Spuren zu vernachlässigen.

Die Rolle der Familie

Die Familie Reusch steht im Zentrum des Falls, nicht nur wegen ihres emotionalen Engagements, sondern auch wegen ihrer Haltung gegenüber Florian R. Rebeccas Eltern und Schwestern betonen seine Unschuld und halten den Familienzusammenhalt aufrecht. „Solange wir nicht hundertprozentig wissen, dass Florian etwas mit Beccis Verschwinden zu tun hat, gilt für uns die Unschuldsvermutung“, sagte Birgit Reusch 2023 gegenüber Bild. Die Familie feiert weiterhin Feste zusammen, obwohl die Situation sie belastet.

Zum sechsten Jahrestag des Verschwindens im Februar 2025 erklärte die Familie gegenüber RTL, sie sei auf dem Weg in den Urlaub, um sich zu erholen: „Wir sind diesmal wirklich jetzt abgehauen.“ Diese Aussage zeigt den Versuch, mit der Trauer umzugehen, während die Hoffnung auf eine Lösung des Falls schwindet.

Allerdings sorgten Äußerungen einer angeblichen Freundin der Familie für Kontroverse. Sie berichtete, die Familie habe bei einer Feier über die Polizeiermittlungen gespottet, insbesondere über die nicht durchsuchten Lauben. Dies führte zu Spekulationen, ob die Familie Informationen zurückhält.

Medienberichterstattung und öffentliche Wahrnehmung

Der Fall Rebecca Reusch erregte enormes Medienecho und wurde mit dem Verschwinden von Madeleine McCann verglichen. Vermisstenexperte Peter Jamin bezeichnete ihn als den „meistbeachteten Fall in Deutschland“. Medien wie Bild, RTL, Berliner Zeitung und Stern berichteten ausführlich, oft mit spekulativen Theorien.

Podcasts wie Im Dunkeln – Der Fall Rebecca Reusch von Miriam Arndts und Lena Niethammer (2020–2021) und eine MDR-Folge von Die Spur der Täter (2024) vertieften die Analyse. Auch YouTuber wie Shirin beleuchteten zeitliche Ungereimtheiten, etwa die Frage, warum Rebecca zwei Stunden vor Schulbeginn aktiv war.

Die öffentliche Faszination führte zu einer Welle von Hobbydetektiven, die eigene Nachforschungen anstellten. Im März 2024 wurde eine Person in einem Waldstück bei der „Ermittlung“ aufgegriffen. Die Polizei betonte, dass solche Aktionen die offiziellen Ermittlungen behindern können.

Expertenmeinungen

Profiler Axel Petermann, der über 1.000 Fälle bearbeitete, sieht im Fall Reusch eine „Ansammlung ungewöhnlicher Umstände“. Er glaubt, dass der Täter strukturiert handelte, um Rebecca zu verbergen, und hält eine späte Aufklärung für möglich, betont jedoch die Notwendigkeit von Glück und neuen Beweisen. Petermann kritisierte die verzögerte Auswertung der Google-Daten, insbesondere die Suchverläufe von Florian R., die auf sexuelle Präferenzen hinweisen könnten.

Kriminalist Christian Matzdorf wies auf die schwierige Zusammenarbeit mit der Familie hin, die die Ermittlungen durch ihre Loyalität zu Florian R. kompliziere.

Gesellschaftliche Bedeutung

Der Fall Rebecca Reusch zeigt die Herausforderungen moderner Kriminalermittlungen in einer digitalen Welt, in der Handydaten, Social Media und Überwachungskameras zentrale Rollen spielen. Gleichzeitig verdeutlicht er die emotionale Belastung für Familien und die Macht der Medien, öffentliche Wahrnehmung zu formen. Die Kontroverse um das Fahndungsfoto wirft Fragen zur Verantwortung der Polizei auf, während die anhaltende Unklarheit die Grenzen forensischer Methoden offenlegt.

Fazit

Sechs Jahre nach dem Verschwinden von Rebecca Reusch bleibt der Fall ungelöst. Die Ermittlungen konzentrieren sich auf Florian R., doch ohne Leiche oder stichhaltige Beweise bleibt die Wahrheit im Dunkeln. Die Familie klammert sich an Hoffnung, während die Öffentlichkeit weiter spekuliert. Der Fall zeigt, wie komplex und schmerzhaft Vermisstenfälle sind – sowohl für die Betroffenen als auch für die Ermittler. Ob neue Technologien, wie KI-generierte Altersbilder, oder zukünftige Hinweise zur Aufklärung beitragen, bleibt ungewiss. Bis dahin bleibt Rebecca Reusch ein Symbol für die Suche nach Antworten in einem der rätselhaftesten Kriminalfälle Deutschlands.